BGH, Beschluß vom 18.07.2007 - Aktenzeichen XII ZB 31/07
Auslegung der Einlegung der Berufung in Abhängig von der Gewährung von Prozesskostenhilfe
»a) Wenn die gesetzlichen Anforderungen an eine Berufungsschrift oder eine Berufungsbegründung erfüllt sind, kommt die Deutung, dass der Schriftsatz nicht als unbedingte Berufung oder Berufungsbegründung bestimmt war, nur dann in Betracht, wenn sich dies aus den Begleitumständen mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit ergibt (im Anschluss an die Senatsbeschlüsse vom 10. Januar 1990 - XII ZB 134/89 - FamRZ 1990, 995 und vom 20. Juli 2005 - XII ZB 31/05 - FamRZ 2005, 1537 ; BGH Beschluss vom 22. Januar 2002 - VI ZB 51/01 - NJW 2002, 1352 ).b) Eine Berufung ist auch dann wirksam eingelegt, wenn ihre "Durchführung" von der Gewährung von Prozesskostenhilfe abhängig gemacht wird. Denn dann wird regelmäßig nicht die Einlegung der Berufung unter den Vorbehalt der Prozesskostenhilfebewilligung gestellt, sondern der Berufungskläger behält sich für den Fall der Versagung der Prozesskostenhilfe die Rücknahme der Berufung vor (im Anschluss an den Senatsbeschluss vom 19. Mai 2004 - XII ZB 25/04 - FamRZ 2004, 1553 ).c) Selbst wenn die Berufung oder die Berufungsbegründung ursprünglich nur durch Bewilligung von Prozesskostenhilfe bedingt und somit noch nicht wirksam erhoben war, kann der Berufungsführer die Bedingung nach der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO durch auslegungsbedürftige Erklärung gegenüber dem Berufungsgericht zurücknehmen.«
Gründe:
I. Das Amtsgericht verurteilte den Beklagten unter Abweisung der weitergehenden Klage zur Zahlung eines monatlichen Trennungsunterhalts in Höhe von 227 EUR für die Zeit ab Oktober 2005. Das Urteil wurde den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 24. August 2006 zugestellt.
Am 23. September 2006 gingen beim Berufungsgericht zwei Schriftsätze der Klägerin vom 21. September 2006 ein. In dem ersten Schriftsatz wiesen die Prozessbevollmächtigten der Klägerin darauf hin, dass "in der Anlage Berufung nebst Berufungsbegründung" übersandt werden. Außerdem beantragten sie, "der Klägerin und Berufungsklägerin" Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren zu bewilligen. Weiter beantragten sie "schon jetzt", der Klägerin nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist zu bewilligen. Zur Begründung wiesen sie darauf hin, dass die Berufung nur durchgeführt werden solle, soweit Prozesskostenhilfe bewilligt werde. Die Klägerin sei finanziell nicht in der Lage, die Kosten des Berufungsverfahrens selbst zu bezahlen. Sie sei deswegen auch unverschuldet daran gehindert, die Berufungsfrist einzuhalten. Aus diesem Grunde sei ihr nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Der beigefügte weitere Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Klägerin war mit "Berufung und Berufungsbegründung" überschrieben und von den Prozessbevollmächtigten unterschrieben. Außerdem war ihm das angefochtene Urteil beigefügt. Nach dem vollständigen Rubrum wurde in dem Schriftsatz ausgeführt: "Namens der Berufungsklägerin wird gegen das am 21. August 2006 verkündete, am 24. August 2006 zugestellte Urteil des Amtsgerichts Marl Berufung eingelegt." Es folgten dann die Berufungsanträge und die Berufungsbegründung.
Das Berufungsgericht bewilligte der Klägerin "für die beabsichtigte Berufung" teilweise Prozesskostenhilfe. Soweit die Klägerin für die Zeit ab Mai 2006 über monatlich weitere 226 EUR (insgesamt 227 EUR + 226 EUR = 453 EUR) hinaus Unterhalt begehrt, lehnte es den Antrag auf Prozesskostenhilfe ab. Der Beschluss wurde den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 28. November 2006 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2006 trugen die Prozessbevollmächtigten der Klägerin weiter zur Sache vor und errechneten darin einen Unterhaltsanspruch in Höhe von monatlich 657 EUR, der sogar über den Betrag der ursprünglichen Berufungsbegründung hinausging. Weiter führten sie aus: "Der Beklagte wird ausdrücklich in Höhe von 657,00 EUR ab Januar 2007 in Verzug gesetzt. Vorgenannte Klage wird ausdrücklich nur noch als Teilklage weitergeführt."
Das Berufungsgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen, weil sie nicht innerhalb der Berufungsfrist eingegangen sei und der Klägerin auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden könne. Die Schriftsätze der Klägerin vom 21. September 2006 könnten nicht als unbedingte Berufung und Berufungsbegründung ausgelegt werden. Im Rahmen der Auslegung sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zwar zu beachten, dass in Fällen, in denen die gesetzlichen Anforderungen einer Berufungsschrift erfüllt seien, die Deutung, dass der Schriftsatz nicht als unbedingte Berufung bestimmt sei, nur dann in Betracht komme, wenn sich dies aus den Begleitumständen mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit ergebe. Vorliegend sei das allerdings der Fall. Insbesondere habe die Klägerin ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Berufung nur durchgeführt werden solle, soweit Prozesskostenhilfe bewilligt werde. Der Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin sei zudem überflüssig, wenn schon der rechtzeitig eingegangene Schriftsatz vom 21. September 2006 als unbedingte Berufung und Berufungsbegründung auszulegen sei. Dagegen wendet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin.
II. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO in Verbindung mit § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft und gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Senatsbeschluss vom 9. Februar 2005 - XII ZB 225/04 - FamRZ 2005, 791, 792 m.w.N.) dient das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in besonderer Weise dazu, den Rechtsschutz und das rechtliche Gehör zu garantieren. Daher gebieten es die Verfahrensgrundrechte auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG ), den Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BGHZ 151, 221 , 227 m.w.N.). Gegen diesen Grundsatz verstößt die angefochtene Entscheidung.
1. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin zu Unrecht nach § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO als unzulässig verworfen, weil sowohl die Berufung als auch die Berufungsbegründung rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen sind.
a) Im Ansatz zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings von der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus, wonach ein Schriftsatz, der alle formellen Anforderungen an eine Berufung oder eine Berufungsbegründung erfüllt, regelmäßig als wirksam eingelegte Prozesserklärung zu behandeln ist. Eine Deutung dahin, dass er gleichwohl nicht unbedingt als Berufung oder Berufungsbegründung bestimmt ist, kommt nur in Betracht, wenn sich dies aus den Begleitumständen mit einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit ergibt (Senatsbeschlüsse vom 20. Juli 2005 - XII ZB 31/05 - FamRZ 2005, 1537 ; vom 19. Mai 2004 - XII ZB 25/04 - FamRZ 2004, 1553 , 1554 und vom 10. Januar 1990 - XII ZB 134/89 - FamRZ 1990, 995 f.; BGH, Beschluss vom 22. Januar 2002 - VI ZB 51/01 - NJW 2002, 1352 ). Solches ist hier jedoch entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts nicht der Fall. Denn im Zweifel ist zugunsten eines Rechtsmittelführers anzunehmen, dass er eher das Kostenrisiko einer ganz oder teilweise erfolglosen Berufung auf sich nimmt als von vornherein zu riskieren, dass seine Berufung als unzulässig verworfen wird.
b) Der Schriftsatz der Klägerin vom 21. September 2006 erfüllte sämtliche formellen Anforderungen an einen Berufungsschriftsatz und eine Berufungsbegründung. Entsprechend § 519 Abs. 2 ZPO wurde das angefochtene Urteil unter Angabe des vollständigen Rubrums konkret bezeichnet und es wurde gegen dieses Urteil ohne Einschränkung "Berufung eingelegt". Auch eine Ausfertigung des angefochtenen Urteils wurde entsprechend § 519 Abs. 3 ZPO beigefügt. Der Schriftsatz enthielt außerdem Berufungsanträge und deren Begründung (§ 520 Abs. 3 Ziff. 1-4 ZPO ). Schließlich war er von den postulationsfähigen Prozessbevollmächtigten der Klägerin eigenhändig unterschrieben.
Zweifel gegen eine unbedingte Berufungseinlegung und -begründung konnten sich deswegen allein aus dem Zusammenwirken mit dem zugleich eingereichten Prozesskostenhilfe- und Wiedereinsetzungsantrag vom 21. September 2006 ergeben.
Soweit in diesem weiteren Schriftsatz allerdings darauf hingewiesen wird, dass die Berufung "nur durchgeführt" werden soll, "soweit Prozesskostenhilfe bewilligt wird", ist schon diese Formulierung nicht eindeutig, wie der Senat bereits in seiner früheren Rechtsprechung (Senatsbeschluss vom 19. Mai 2004 - XII ZB 25/04 - FamRZ 2004, 1553 , 1554) ausgeführt hat. Sie kann vielmehr auch dahin verstanden werden, dass nur die Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang die (weitere) Durchführung des Rechtsmittelverfahrens - die die Einlegung des Rechtsmittels voraussetzt -, von der Bewilligung der Prozesskostenhilfe abhängig gemacht wird, nicht aber die Einlegung selbst, und dass der Kläger sich für den Fall vollständiger Versagung der Prozesskostenhilfe die Rücknahme der Berufung vorbehält (vgl. auch BGH, Urteil vom 31. Mai 1995 - VIII ZR 267/94 - NJW 1995, 2563 ). Gleiches gilt dann auch für den Hinweis der Klägerin, sie sei finanziell nicht in der Lage, die Kosten des Berufungsverfahrens selbst zu bezahlen.
Soweit die Klägerin in dem Prozesskostenhilfeantrag weiter ausführt, dass sie daran gehindert sei, die Berufungsfrist einzuhalten, und deswegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe beantragt, hat das Berufungsgericht darin zwar zu Recht einen Widerspruch zu der in dem weiteren Schriftsatz vom 21. September 2006 unbedingt eingelegten Berufung und Berufungsbegründung gesehen. Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts folgt daraus allerdings nicht mit hinreichender Deutlichkeit, dass die vorliegende Berufung und Berufungsbegründung - mit all den dadurch bedingten Unwägbarkeiten - zunächst nur bedingt eingelegt werden sollte. Denn der Widerspruch der beiden eingereichten Schriftsätze kann nicht zwingend im Sinne der Auslegung eines Schriftsatzes gelöst werden. Ergibt sich aus dem Zusammenwirken der beiden Schriftsätze aber keine - jeden vernünftigen Zweifel ausschließende - Deutlichkeit dafür, dass die Berufung nur bedingt eingelegt werden sollte, sprechen die Einhaltung der Förmlichkeiten und die Unterschrift unter dem Berufungsschriftsatz dafür, dass die Berufung und die zugleich enthaltene Begründung bereits als unbedingt eingelegt gelten sollten.
2. Selbst wenn - wie das Oberlandesgericht meint - die Berufung zunächst bedingt eingelegt und begründet worden wäre, hätte das Berufungsgericht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand jedenfalls nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, die Prozesshandlungen seien erst nach Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist nachgeholt worden.
Nachdem der Klägerin am 28. November 2004 der Beschluss mit der teilweisen Bewilligung der beantragten Prozesskostenhilfe zugestellt worden war, hat sie mit einem am 9. Dezember 2006 eingegangenen Schriftsatz vom 7. Dezember 2005 deutlich gemacht, dass sie eine - gegebenenfalls zunächst bedingt eingelegte - Berufung in vollem Umfang durchgeführt wissen will. Obwohl sie mit ihrer ursprünglichen Berufungsbegründung lediglich rückständigen Unterhalt in Höhe von monatlich insgesamt 453 EUR und laufenden Unterhalt ab Mai 2006 in Höhe von monatlich 553 EUR geltend gemacht hatte, für die ihr Prozesskostenhilfe in Höhe von durchgehend insgesamt 453 EUR monatlich (227 EUR + 226 EUR) bewilligt worden war, hat sie in dem Schriftsatz vom 7. Dezember 2006 wegen des nunmehr entfallenen Wohnvorteils einen Unterhaltsanspruch von monatlich 657 EUR errechnet. Die "vorgenannte Klage" hat sie deswegen ausdrücklich "nur noch als Teilklage weitergeführt". Indem die Klägerin sich in diesem rechtzeitig vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist eingegangenen Schriftsatz sogar eines höheren Unterhaltsanspruchs für die Zeit ab Januar 2007 berühmte, der hilfsweise auch die geringe Unterhaltsdifferenz aus dem ursprünglichen Berufungsantrag und der bewilligten Prozesskostenhilfe (monatlich 100 EUR für die Zeit von Mai bis Dezember 2006) hätte auffüllen können, hat sie jedenfalls deutlich gemacht, dass der ursprünglich erhobene Antrag in diesem Umfang unbedingt weiter verfolgt werden sollte.