BGH, Beschluss vom 29.04.2021 - Aktenzeichen 4 StR 165/20
Vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs durch ein verbotenes Kraftfahrzeugrennen; Einordnung eines Sich-Fortbewegens mit nicht angepasster Geschwindigkeit als grob verkehrswidrig und rücksichtslos
Der Qualifikationstatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB in § 315d Abs. 4 StGB ist nicht verwirklicht, wenn die tatsächlich vom Angeklagten gefahrene Geschwindigkeit nicht der höchstmöglichen entspricht.
Tenor
1.Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 8. Januar 2020 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen im Strafausspruch und hinsichtlich der Entscheidung über die Dauer der Sperre für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis aufgehoben.
2.Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3.Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und eine Maßregelanordnung nach den §§ 69 , 69a StGB getroffen. Auf die Revision des Angeklagten hob der Senat dieses Urteil mit den Feststellungen auf und verwies die Sache an das Landgericht zurück. Das Landgericht hat den Angeklagten nunmehr wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Des Weiteren hat es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, den Führerschein des Angeklagten eingezogen und eine Sperre für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis von einem Jahr und sechs Monaten verhängt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, die mit der nicht näher ausgeführten Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet ist.
Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO .
I.
Nach den Feststellungen war der Angeklagte am 23. Dezember 2017 gegen 1.08 Uhr am Steuer eines Pkws VW Golf GTI im Stadtgebiet von Kempten unterwegs. Als er vom S. ring in die K. Straße einbog, entschlossen sich zwei Beamte einer Polizeistreife dazu, dem Angeklagten mit ihrem Einsatzfahrzeug zu folgen, um ihn einer allgemeinen Verkehrskontrolle zu unterziehen. Auf der K. Straße, die Richtung Innenstadt verläuft, gilt zunächst eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h, ehe sich nach ca. 550 Metern ein etwa 300 Meter langer Straßenabschnitt vor einer dort gelegenen Veranstaltungshalle anschließt, auf dem die Höchstgeschwindigkeit auf 20 km/h beschränkt ist.
Der Angeklagte, der das hinter ihm mit Anhaltesignal fahrende Einsatzfahrzeug der Polizei bemerkt hatte, wollte sich der drohenden Verkehrskontrolle entziehen. Ohne sich über andere Verkehrsteilnehmer und mögliche Gefahren Gedanken zu machen, beschleunigte er auf der K. Straße seinen zunächst mit normaler Geschwindigkeit fahrenden Pkw VW Golf GTI mit Vollgas, wobei er das Gaspedal seines mit einem Automatikgetriebe ausgestatteten Fahrzeugs bis zum Bodenblech durchdrückte, bis auf eine Geschwindigkeit von mindestens 130 km/h und durchfuhr anschließend mit dieser Geschwindigkeit den Straßenabschnitt mit der angeordneten Geschwindigkeitsbegrenzung auf 20 km/h. Dabei war es das Ziel des Angeklagten, dem verfolgenden Streifenwagen zu entkommen. Dies konnte er nach seinen Vorstellungen nur durch das Wegfahren mit der in dieser Situation höchstmöglichen Geschwindigkeit erreichen.
Obwohl die verfolgenden Polizeibeamten ihr Einsatzfahrzeug ebenfalls maximal beschleunigten, vergrößerte sich der zunächst etwa zwei Fahrzeuglängen betragende Abstand zwischen den Fahrzeugen während der Fluchtfahrt kontinuierlich. Als die Beamten ihre Geschwindigkeit bei Einfahrt in die geschwindigkeitsbeschränkte Zone vor der Veranstaltungshalle aus Sicherheitsgründen reduzierten, verloren sie den Angeklagten aus den Augen.
Der Angeklagte seinerseits setzte die Fahrt mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit durch die sich anschließende Fußgängerzone fort, weil er sich dort die besten Erfolgsaussichten für sein Fluchtvorhaben versprach. Er erreichte den R. platz und bog dort in die ebenfalls als Fußgängerzone ausgewiesene G. straße ein. Die gepflasterte und mittig mit einer Wasserablaufrinne versehene G. straße hat eine Breite von 8 bis 9 Metern und verläuft vom R. platz kommend in einer leichten Rechtskurve, die wegen der kurveninnenseitigen Bebauung schlecht einsehbar ist. Der Angeklagte durchfuhr die Rechtskurve, überquerte danach eine kreuzende Straße und fuhr maximal beschleunigend mit der für ihn gerade noch beherrschbaren Geschwindigkeit auf eine hinter der Kreuzung befindliche Baustelle zu, die auf der linken Straßenseite auf einer Länge von mehreren Metern eingerichtet war und die Straßenbreite auf 4,12 Meter verengte. Zwischen dem Ende der Baustelle und der nachfolgenden Kreuzung stand der Zeuge F. zusammen mit seiner Schwester und einer Bekannten vor einer aus Sicht des Angeklagten auf der rechten Straßenseite gelegenen Gaststätte auf der G. straße. Der Angeklagte, der die Personen aus etwa 40 bis 50 Meter Entfernung erkannt hatte, wollte seine Flucht vor der Polizei weiter erfolgreich fortsetzen, weshalb er nicht abbremste oder auswich, sondern ‒ auf deren Ausweichen vertrauend ‒ mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h auf die auf der G. straße stehenden Personen zufuhr. Der Zeuge F. nahm das Fahrzeug des Angeklagten wahr und konnte mit einer schnellen Reaktion seine Schwester und diese ihrerseits die Bekannte zur Seite ziehen und dadurch einen Zusammenstoß des vom Angeklagten gesteuerten Pkws mit der Bekannten verhindern. Der Angeklagte passierte die Personen in einem Abstand von ca. 30 cm mit unverminderter Geschwindigkeit. Die konkrete Gefahr einer Kollision mit entsprechenden Verletzungen hätte der Angeklagte bei dieser Fahrweise erkennen können und müssen.
II.
Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe sich im Rahmen seiner Fluchtfahrt durch das Fahrverhalten in der G. straße wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 , Abs. 4 StGB strafbar gemacht, hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand, weil die Feststellungen der Strafkammer zu der nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbarkeitsbegründenden Absicht auf einer nicht tragfähigen Beweiswürdigung beruhen. Die insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des angefochtenen Urteils ergeben indes, dass der Angeklagte zu Beginn der Fluchtfahrt in der K. Straße den Grundtatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verwirklicht hat.
1. Die Strafvorschrift des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt in objektiver Hinsicht ein Sich-Fortbewegen mit nicht angepasster Geschwindigkeit voraus, das sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls als grob verkehrswidrig und rücksichtslos darstellt. Die grobe Verkehrswidrigkeit des Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit kann sich allein aus der besonderen Massivität des Geschwindigkeitsverstoßes oder aus begleitenden anderweitigen Verkehrsverstößen ergeben, die in einem inneren Zusammenhang mit der nicht angepassten Geschwindigkeit stehen. Die Tathandlung muss ferner im Sinne einer überschießenden Innentendenz von der Absicht des Täters getragen sein, nach seinen Vorstellungen auf einer nicht ganz unerheblichen Wegstrecke die unter den konkreten situativen Gegebenheiten maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Diese Absicht braucht nicht Endziel oder Hauptbeweggrund des Handelns zu sein. Es reicht vielmehr aus, dass der Täter das Erreichen der situativen Grenzgeschwindigkeit als aus seiner Sicht notwendiges Zwischenziel anstrebt, um ein weiteres Handlungsziel zu erreichen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Februar 2021 ‒ 4 StR 225/20 Rn. 16, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt; vom 13. April 2021 ‒ 4 StR 109/20 Rn. 5).
Dieses Verständnis des Absichtsmerkmals in § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB hat zur Folge, dass beim Vorliegen der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen auch sogenannte Polizeifluchtfälle von der Strafvorschrift erfasst werden, sofern festgestellt werden kann, dass es dem Täter darauf ankam, als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass aus einer Fluchtmotivation nicht ohne Weiteres auf die Absicht geschlossen werden kann, die gefahrene Geschwindigkeit bis zur Grenze der situativ möglichen Höchstgeschwindigkeit zu steigern (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 ‒ 4 StR 225/20 Rn. 17).
2. Die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe durch sein Fahrverhalten in der G. straße den Grundtatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB und die einen fahrlässig verursachten Gefahrenerfolg voraussetzende Qualifikationsnorm des § 315d Abs. 4 StGB verwirklicht, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Denn die Feststellung des Landgerichts, dass das Fahren des Angeklagten mit unangepasster Geschwindigkeit in der G. straße von der Absicht getragen war, die nach seiner Vorstellung höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, stützt sich auf eine Beweiswürdigung, die unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 ‒ 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18 , 20 f. mwN; Franke in Löwe-Rosenberg, StPO , 26. Aufl., § 337 Rn. 117 ff. mwN) einer rechtlichen Prüfung nicht standhält. Die Beweiswürdigung erweist sich insoweit als lückenhaft.
Die Strafkammer hat ihre Überzeugung vom Vorliegen des Absichtselements des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB neben den Bekundungen des Zeugen F. und eines weiteren Zeugen zu ihren subjektiven Eindrücken vom Fahrverhalten des Angeklagten maßgeblich auf die durchgängig vorhandene Fluchtmotivation des Angeklagten sowie den Umstand gestützt, dass der Angeklagte zu Beginn der Fluchtfahrt in der K. Straße mit maximaler Beschleunigung fuhr. Dagegen hat sie die im Urteil wiedergegebenen Ausführungen des verkehrstechnischen Sachverständigen bei der Bewertung der subjektiven Tatseite nicht in den Blick genommen. Der Sachverständige hat dargelegt, dass die vom Angeklagten nach dem R. platz zunächst zu bewältigende Rechtskurve in der G. straße mit einer Geschwindigkeit von höchstens 51 km/h durchfahren werden konnte und anschließend bis zur Position der vor der Gaststätte stehenden Personen eine Beschleunigungsstrecke zur Verfügung stand, die das Erreichen einer maximalen Geschwindigkeit von 110 km/h ermöglicht hätte. Der Umstand, dass für den Angeklagten bis zu dem Passieren der Personen vor der Gaststätte nach den Erläuterungen des Sachverständigen bei maximaler Beschleunigung eine Geschwindigkeit von 110 km/h möglich gewesen wäre, er an den Personen tatsächlich aber mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h vorbeifuhr, hätte vom Landgericht bei der Prüfung des Absichtselements mit in seine beweiswürdigenden Überlegungen eingestellt werden müssen. Darüber hinaus wäre bei der indiziellen Bewertung der beim Angeklagten durchgängig vorhandenen Fluchtmotivation zu berücksichtigen gewesen, dass der Angeklagte in der G. straße nicht mehr unter unmittelbarem Verfolgungsdruck stand, weil er das ihm in der K. Straße nachfahrende Einsatzfahrzeug der Polizei zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschüttelt hatte.
3. Die insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils ergeben aber, dass der Angeklagte durch sein Fahrverhalten zu Beginn der Fluchtfahrt in der K. Straße den Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllt und sich wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens strafbar gemacht hat. Indem er die K. Straße ungeachtet der dort geltenden Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 50 km/h und anschließend 20 km/h mit einer Geschwindigkeit von mindestens 130 km/h entlangfuhr, bewegte er sich als Kraftfahrzeugführer mit unangepasster Geschwindigkeit fort. Sein Tun stellte sich schon angesichts der massiven Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeiten als grob verkehrswidrig dar. Nach den Urteilsausführungen handelte der Angeklagte auch gleichgültig gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern um seines schnelleren Fortkommens Willen, mithin rücksichtslos. Schließlich hat das Landgericht auf der Grundlage der als glaubhaft bewerteten geständigen Einlassung des Angeklagten rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die unter maximaler Beschleunigung unternommene Fahrt des Angeklagten in der K. Straße von der Absicht getragen war, nach seinen Vorstellungen über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die unter den konkreten situativen Gegebenheiten höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, um auf diese Weise der ihn verfolgenden Polizeistreife zu entkommen.
4. Vor dem Hintergrund der gutachterlichen Ausführungen des verkehrstechnischen Sachverständigen und der seit dem verfahrensgegenständlichen Geschehen mittlerweile verstrichenen Zeitspanne von mehr als drei Jahren schließt der Senat aus, dass noch tatsächliche Feststellungen getroffen werden können, die für den Abschnitt der Fluchtfahrt in der G. straße das Vorliegen des Absichtsmerkmals des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB ergeben könnten. Der Senat ändert daher die rechtliche Würdigung, so dass die ‒ im Tenor des angefochtenen Urteils nicht zum Ausdruck gebrachte ‒ Verurteilung des Angeklagten nach der Qualifikationsnorm des § 315d Abs. 4 StGB entfällt und es bei der Strafbarkeit gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verbleibt. § 265 StPO steht auch der in tatsächlicher Hinsicht veränderten Anknüpfung der Verurteilung nicht entgegen, da sich der zum Fahrverhalten in der K. Straße umfassend geständige Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können.
5. Die Änderung der rechtlichen Bewertung führt zur Aufhebung des Strafausspruchs und ‒ wegen des in den Gründen des angefochtenen Urteils hergestellten Zusammenhangs zwischen Strafe und Maßregelausspruch nach § 69a StGB ‒ der Entscheidung über die Dauer der Sperre für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis. Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 StGB kann dagegen bestehen bleiben. Der Angeklagte hat das Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 Nr. 1a StGB für ein Vorliegen der Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen verwirklicht. Angesichts der Vielzahl der im Verlauf der gesamten Fluchtfahrt begangenen gravierenden Verkehrsverstöße kann der Senat ausschließen, dass das Landgericht auf der Grundlage der geänderten rechtlichen Bewertung von der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 1a StGB abgewichen wäre.