BVerfG, Beschluss vom 30.09.2010 - Aktenzeichen 1 BvR 2414/10
Vorläufige Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für eine Tochter von der bislang allein sorgeberechtigten Mutter auf einen Pfleger zur Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt
Tenor
Bis zur Entscheidung der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache, längstens bis zum 30. März 2011, wird das Verbleiben der Tochter L. bei dem Beschwerdeführer angeordnet.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die vorläufige Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für seine Tochter von der bislang allein sorgeberechtigten Mutter auf einen Pfleger, wodurch die Herausnahme des Kindes aus seinem Haushalt ermöglicht werden soll.
1.
a) Der Beschwerdeführer ist Vater der im Januar 1998 nichtehelich geborenen Tochter L. Das Sorgerecht stand der Kindesmutter allein zu. Im Frühjahr 2008 verließ die Kindesmutter die bis dahin mit dem Beschwerdeführer und dem Kind gemeinsam bewohnte Wohnung. Das Kind verblieb im Haushalt des Beschwerdeführers. Die Kindesmutter beantragte in der Folge bei dem Familiengericht die Herausgabe des Kindes. Der Beschwerdeführer begehrte im Gegenzug eine Verbleibensanordnung und im späteren Verfahrensverlauf die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf ihn.
Mitte Januar 2010 hörte der Familienrichter das Kind persönlich an. Es erklärte, bei dem Beschwerdeführer bleiben zu wollen. Am 29. Juni 2010 fand ein weiterer Termin mit der gerichtlich bestellten Sachverständigen statt. Diese hatte zuvor Gespräche mit der Kindesmutter und dem Kind geführt, während der Beschwerdeführer eine Mitwirkung verweigerte. Die Sachverständige erklärte, dass eine Fremdunterbringung des Kindes wünschenswert sei. Das hiermit konfrontierte Kind erklärte, es wolle bei dem Beschwerdeführer bleiben. Anschließend erörterte das Gericht mit den Beteiligten, dass eine sofortige Fremdunterbringung nicht veranlasst sei. Es solle zunächst eine Absprache mit der Einrichtung und dem Jugendamt erfolgen. Mit dem Beschwerdeführer vereinbarte das Gericht, dass er die Tochter, "wie gewohnt, zuverlässig zu Hause weiterhin versorgen werde".
b)
Mit angegriffenem Beschluss vom 19. Juli 2010 entzog das Amtsgericht der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für L. und übertrug es auf einen Pfleger. Zur Verhinderung weiterer Kindeswohlgefährdung sei es notwendig, das Kind zumindest vorübergehend aus dem elterlichen Umfeld herauszunehmen.
Der Beschwerdeführer habe zwar Recht, wenn er darauf hinweise, dass es dem Kind an nichts mangle, es ausreichend zu Essen und zu Trinken bei ihm bekomme und auch Obdach. Im Übrigen würde er alles tun, was das Kind von ihm verlange. Die Sachverständige habe ihrerseits Recht, wenn sie darauf hinweise, dass es für das Kind eine Gefährdung seiner Entwicklung bedeute, wenn es sich in diesem nunmehr kritischen Alter praktisch selbst erziehen müsse. Irgendeine Form einer Erziehung durch den Beschwerdeführer sei derzeit nicht erkennbar und nicht absehbar. Die Sachverständige habe insoweit den Verdacht geäußert, bei dem Beschwerdeführer könne eine Persönlichkeitsstörung vorliegen, die seine Erziehungsfähigkeit einschränken, wenn nicht sogar aufheben könne. Bei der Kindesmutter liege zwar das Sorgerecht. Sie habe es aber in den zwei Jahren des Verfahrens nicht vermocht, dieses für sich positiv umzusetzen und sich auch nicht zu einer vorübergehenden Fremdunterbringung des Kindes entschließen können.
Die Sachverständige habe in ihrem vorläufigen mündlichen Gutachten darauf hingewiesen, dass sie keine andere Möglichkeit mehr sehe, als das Kind einem neutralen Umfeld zuzuführen. Dies solle jedenfalls für die Zeit der Ferien gelten. Sie sehe die dringende Notwendigkeit, das Kind für eine vorübergehende Zeit aus dem Umfeld mit dem Beschwerdeführer herauszunehmen, um die notwendige Diagnostik durchführen zu können. Dieser Einschätzung schließe sich das Gericht angesichts des Ablaufs des Verfahrens, des von den Eltern und dem Kind gewonnenen Eindrucks sowie der Sachkunde der Sachverständigen an. Mildere Maßnahmen seien derzeit angesichts der Verfahrenssituation nicht mehr möglich.
c)
Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 13. August 2010 zurück.
Es gebe durchaus aus dem Verfahrensgang folgende Hinweise, dass die Erziehungseignung des Beschwerdeführers deutlich eingeschränkt sei mit der Folge einer Gefährdung des Kindeswohls. Dem stehe nicht entgegen, dass die äußere Versorgung nicht zu beanstanden sei. Ebenso möge es sein, dass ein liebevolles Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter bestehe. Dies stehe einer hier ernsthaft zu besorgenden Kindeswohlgefährdung durch fehlende Erziehung, die sich nicht in dem Aufstellen von Strukturen erschöpfe, nicht entgegen. Angesichts dieser Kindeswohlgefährdung seien mildere Mittel als die Fremdunterbringung und damit die Herausnahme aus dem väterlichen Haushalt nicht ersichtlich.
2.
Der Beschwerdeführer, der mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG durch die angegriffenen Beschlüsse rügt, begehrt, das einstweilige Verbleiben des Kindes in seinem Haushalt anzuordnen.
II.
1.
Der Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
a)
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 103, 41 <42>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zu- grunde (vgl. BVerfGE 34, 211 <216>; 36, 37 <40>). In Kindschaftssachen ist auch zu berücksichtigen, dass die Abwägung nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Februar 2009 - 1 BvR 142/09 -, NJW-RR 2009, S. 721 ).
b)
Die eingelegte Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Insbesondere ist die Beschwerdebefugnis des Beschwerdeführers zu bejahen. Zwar haben die Fachgerichte mit den angegriffenen Entscheidungen nicht dem Beschwerdeführer, sondern der allein sorgeberechtigten Kindesmutter vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen. Der (Teil-)Sorgerechtsentzug erfolgte jedoch mit dem Ziel, eine Fremdunterbringung des Kindes und damit seine Trennung von dem Beschwerdeführer zu ermöglichen. Insofern sind die angegriffenen Entscheidungen geeignet, den Beschwerdeführer selbst in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu verletzen.
Der Verfassungsbeschwerde steht auch nicht der Subsidiaritätsgrundsatz entgegen, weil die angegriffenen Entscheidungen im einstweiligen Anordnungsverfahren ergangen sind und eine Entscheidung in der Hauptsache noch aussteht. Der Grundsatz der Subsidiarität fordert über das Gebot der Rechtswegerschöpfung hinaus, dass der Beschwerdeführer die ihm zur Verfügung stehenden weiteren Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder diese gar zu verhindern. Daher ist die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache geboten, wenn dort nach der Art des gerügten Grundrechtsverstoßes die Gelegenheit besteht, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (BVerfGE 104, 65 <70 f.>; stRspr). Das ist dem Beschwerdeführer vorliegend nicht möglich. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Fremdunterbringung seines Kindes, die gerade durch die angegriffenen Eilentscheidungen ermöglicht werden soll. Er rügt damit eine Verfassungsverletzung durch die Entscheidungen im vorläufigen Rechtsschutz selbst. Wäre sein Vorwurf einer Grundrechtsverletzung zutreffend, so könnte diese wegen der noch vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens beabsichtigten Herausnahme des Kindes aus seinem Haushalt durch die Hauptsacheentscheidung nicht mehr vollständig ausgeräumt werden.
c)
Die demnach erforderliche Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.
Erginge die einstweilige Anordnung, so verbliebe das Kind - gemäß seinem eigenen Wunsch - bis zum Abschluss des Verfahrens bei dem Beschwerdeführer in seiner vertrauten Umgebung, wo es nach den Feststellungen der Fachgerichte eine ausreichende Versorgung erfährt. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als unbegründet, verzögerte sich die Aufnahme des Kindes in der Jugendhilfeeinrichtung und damit der Ausgleich des von den Fachgerichten bei dem Beschwerdeführer angenommenen Erziehungsdefizits um einen - allerdings überschaubaren - Zeitraum.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, so würde das Kind gegen seinen Willen von dem Beschwerdeführer als Hauptbezugsperson getrennt, aus seinem familiären Umfeld gerissen und in eine ihm fremde Heimeinrichtung verbracht. Dies wäre, wenngleich es sich um eine heimatnahe Einrichtung handelt, so dass kein Schulwechsel erforderlich wäre, mit nicht unerheblichen Belastungen für das zwölfjährige Kind verbunden. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als begründet, wäre ein nochmaliger Aufenthaltswechsel des Kindes zurück zum Beschwerdeführer zu erwarten. Ein solcher mehrfacher Wechsel der unmittelbaren Bezugsperson und des Wohnumfeldes beeinträchtigten das Kindeswohl aber in wesentlichem Maße.
Wägt man daher die Folgen gegeneinander ab, so wiegen die Nachteile, die dem Kind im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen, weniger schwer als die Nachteile, die dem Kind und dem Beschwerdeführer im Falle der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung entstehen könnten.
2.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG .