BVerfG, Beschluss vom 14.02.2023 - Aktenzeichen 1 BvR 2845/16
Anlasslose Speicherung von Verkehrsdaten; Überprüfung einer nationalen Norm im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Normenkette:
StPO § 100g Abs. 2 ; StPO § 100g Abs. 3 ; TKG i.d.F. des VerkDSpG (n.a.Abk.) v. 10.12.2015 § 113b; TKG i.d.F. des VerkDSpG (n.a.Abk.) v. 10.12.2015 § 113c; GG Art. 10 Abs. 1 ; GG Art. 12 Abs. 1 ;Gründe
I.
1. Die Beschwerdeführenden wandten sich mit ihrer am 19. Dezember 2016 erhobenen Rechtssatzverfassungsbeschwerde der Sache nach ursprünglich gegen § 113b Abs. 1 bis 4 und 8 sowie § 113c Abs. 1 des Telekommunikationsgesetzes ( TKG ) in der Fassung des Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 (BGBl I S. 2218 ), die die sogenannte anlasslose Vorratsspeicherung regelten. Zur Begründung machten die Beschwerdeführenden geltend, die anlasslose Speicherung ihrer Verkehrsdaten verstoße insbesondere gegen ihre Grundrechte aus Art. 10 Abs. 1 GG (Telekommunikationsfreiheit) und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht in der Ausprägung der informationellen Selbstbestimmung).
2. Mit Beschluss vom 25. September 2019 - 6 C 12.18 - setzte das Bundesverwaltungsgericht ein verwaltungsgerichtliches Verfahren aus, in dem sich Erbringer öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste gegen ihre in § 113a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 113b TKG geregelte Pflicht gewandt hatten, im Einzelnen bezeichnete Verkehrs- und Standortdaten anlasslos für eine Dauer von zehn beziehungsweise vier Wochen auf Vorrat zu speichern. Zur Begründung wurde ausgeführt, es sei entscheidungserheblich und bedürfe der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, ob diese Pflicht angesichts der im Gesetz geregelten Vorgaben zur Datensicherheit und zum Datenabruf auf Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation - ABl L 201, S. 37) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl L 337, S. 11) geänderten Fassung gestützt werden könne. Daher werde eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ( AEUV ) zur Vereinbarkeit der durch die - auch vorliegend - streitgegenständlichen Normen ermöglichten anlasslosen Vorratsdatenspeicherung mit dem Unionsrecht eingeholt.
3. Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (Neufassung) und zur Modernisierung des Telekommunikationsrechts vom 23. Juni 2021 (BGBl I S. 1858 , im Folgenden: Telekommunikationsmodernisierungsgesetz) wurden die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung neu gefasst. Die hier angegriffenen Vorschriften finden sich nunmehr ihrem Inhalt nach in § 176 Abs. 1 bis 4 und 8 sowie § 177 Abs. 1 TKG n.F. Nach der Gesetzentwurfsbegründung sollten die Vorschriften im Rahmen dieser Novelle inhaltlich nicht verändert, sondern nur an die neuen Begrifflichkeiten angepasst werden, da die Verpflichtungen zur Speicherung von Verkehrsdaten nach den bisherigen §§ 113a ff. TKG a.F. Gegenstand nationaler und unionsrechtlicher gerichtlicher Überprüfung seien (vgl. BTDrucks 19/26108, S. 369 f., 393).
4. Mit Schriftsatz vom 28. April 2022 haben die Beschwerdeführenden ihre Verfassungsbeschwerde auf die Neufassung der angegriffenen Vorschriften umgestellt.
5. Auf die Vorlagefrage des Bundesverwaltungsgerichts hin hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 20. September 2022, SpaceNet AG u.a., C-793/19, C-794/19, EU:C:2022:702 entschieden.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil kein zwingender Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 BVerfGG vorliegt und auch sonst kein Grund für ihre Annahme ersichtlich ist. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig; damit hat sie keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil aus ihrer Begründung nicht hervorgeht, inwieweit noch ein Rechtsschutzbedürfnis für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts besteht.
Beschwerdeführende sind angehalten, ihre Verfassungsbeschwerden bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung gegebenenfalls auch nachträglich zu ergänzen (vgl. BVerfGE 106, 210 <214 f.>; 158, 170 <194 Rn. 57>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Mai 2020 - 1 BvR 273/16 -, Rn. 5; vom 22. Oktober 2021 - 1 BvR 1416/17 -, Rn. 7; und vom 23. Februar 2022 - 1 BvR 717/18 -). Sie trifft eine aus § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG fließende Begründungslast für das (Fort-)Bestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Denn der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde dient primär der Durchsetzung subjektiver von der Verfassung gewährter Rechtspositionen, die nicht bereits anderweitig durchgesetzt sind oder absehbar durchgesetzt werden.
2. Dieser Begründungslast sind die Beschwerdeführenden im vorliegenden Fall nicht nachgekommen, obschon Anlass dafür bestand, von einer entscheidungserheblichen Veränderung der Sach- und Rechtslage auszugehen. Vorliegend waren die Beschwerdeführenden jedenfalls nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 20. September 2022, SpaceNet AG u.a., C-793/19, C-794/19, EU:C:2022:702 gehalten, ihren Vortrag substantiiert dahingehend zu ergänzen, ob und inwieweit ihr Rechtsschutzbedürfnis weiter fortbestand.
a) Grundsätzlich gibt es für eine Überprüfung einer nationalen Norm im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde kein Bedürfnis, wenn schon feststeht, dass die Norm dem Unionsrecht widerspricht und deshalb innerstaatlich nicht angewendet werden darf (vgl. BVerfGE 110, 141 <155>).
b) Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob bereits vor dem obigen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union angesichts dessen bisheriger Rechtsprechung (insbesondere EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u.a., C-203/15 und C-698/15, EU:C:2016:970 und vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u.a., C 511/18, C 512/18 und C 520/18, EU:C:2020:791) Anlass dafür bestanden hätte, sich mit der Frage einer möglichen Unanwendbarkeit der angegriffenen Vorschriften zu befassen. Denn jedenfalls nach dem Ergehen des Urteils vom 20. September 2022 zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung in Deutschland musste es sich den Beschwerdeführenden aufdrängen, zur Frage ihres fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses nachzutragen.
aa) So hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 25. September 2019 - 6 C 12.18 - die Aussetzung des Verfahrens und die notwendige Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union ausdrücklich mit einer möglichen Unanwendbarkeit der vorliegend ursprünglich angegriffenen Vorschriften begründet. Der Vorlagebeschluss führt dabei unter anderem die von den Beschwerdeführenden ursprünglich angegriffenen Vorschriften weitgehend explizit auf und legt diese der Vorlagefrage zugrunde. Sei die Regelung in § 113a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 113b TKG in der Fassung vom 10. Dezember 2015 mit dem Unionsrecht nicht vereinbar, dürfe sie - da eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht in Betracht komme - wegen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nicht angewendet werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. September 2019 - 6 C 12.18 -, Rn. 5). Die Vorlagefrage umfasst neben den Einzelheiten - unter anderem Dauer und Umfang - der Speicherungspflicht der Betreiber, den jeweiligen Ausnahmetatbeständen und den Sicherungsmechanismen vor etwaigem Missbrauch insbesondere auch die intendierte Verwendung der gespeicherten Daten.
bb) Auf diese Vorlage hin hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 20. September 2022, SpaceNet AG u.a., C-793/19, C-794/19, EU:C:2022:702 unter Bestätigung seiner früheren Rechtsprechung im Wesentlichen entschieden, dass die Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation - ABl L 201, S. 37) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl L 337, S. 11) geänderten Fassung im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsähen (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 131). Dabei sind in Art. 7 und 8 der Charta die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten verankert, in Art. 11 der Charta die Freiheit der Meinungsäußerung und in Art. 52 Abs. 1 der Charta insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten sei nur unter verschiedenen engen Voraussetzungen zulässig, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersehe. Zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit könnten die Mitgliedstaaten jedoch unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und weiterer Voraussetzungen insbesondere eine gezielte Vorratsspeicherung und/oder umgehende Sicherung solcher Daten sowie eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Internetprotokoll-Adressen (IP-Adressen) vorsehen (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 100 f., 131).
c) Um den Substantiierungsanforderungen zu genügen, hätten die Beschwerdeführenden vor diesem Hintergrund vortragen müssen, inwieweit noch ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Prüfung der angegriffenen Vorschriften am Maßstab des Grundgesetzes fortbestehen sollte. Unerheblich ist dabei, dass die Regelungen zwischenzeitlich durch das Telekommunikationsmodernisierungsgesetz neugefasst wurden und sich nunmehr in § 175 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 176 TKG in der Fassung vom 23. Juni 2021 finden. Zum einen ging hiermit - wie auch die Beschwerdeführenden ausführen - gerade keine inhaltliche Änderung einher, zum anderen erstreckte sich die Vorlagefrage auf das insoweit unverändert gebliebene Regelungskonzept der deutschen anlasslosen Vorratsdatenspeicherung. Es fehlt insofern auch an einem Vortrag dazu, inwieweit die hier ebenso angegriffene Regelung zur Verwendung von Daten in § 177 Abs. 1 TKG n.F. (§ 113c Abs. 1 TKG a.F.) von dem Regelungskonzept der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung nicht erfasst und die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht maßgeblich sein sollte.
d) Zu einem fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnis fehlt jedoch hinreichender Vortrag der Beschwerdeführenden. Dessen Relevanz hätte sich aber umso mehr aufdrängen müssen, als die Beschwerdeführenden wegen bestehender Zweifel an der Unionsrechtskonformität mit ihrer Verfassungsbeschwerde ursprünglich selbst beantragt hatten, dem Gerichtshof der Europäischen Union die Frage der Vereinbarkeit der angegriffenen Vorschriften insbesondere mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG sowie Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorzulegen. Auch sind sie im hiesigen Verfassungsbeschwerdeverfahren mit Verfügung vom 5. Januar 2022 auf das vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängige Verfahren zur Vorratsdatenspeicherung ausdrücklich hingewiesen worden. Nachdem dieser die Frage deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht geklärt hat, haben die Beschwerdeführenden sich jedoch nicht mehr verhalten.
e) Soweit die Beschwerdeführenden in ihrem Nachtragsschriftsatz vom 28. April 2022 auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u.a., C 511/18, C 512/18 und C 520/18, EU:C:2020:791 allein im Kontext der Vorratsspeicherung von IP-Adressen eingegangen sind, führt dies zu keiner abweichenden Bewertung. Der Sache nach beanstanden die Beschwerdeführenden die Würdigung des Gerichtshofs der Europäischen Union, es sei mit Unionsrecht vereinbar, zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorzusehen. Die zugrunde-liegende Argumentation des Urteils begegne zahlreichen Bedenken, ließe sich aber jedenfalls nicht auf die Prüfung der Vorschriften am Maßstab des Grundgesetzes übertragen. Das Grundgesetz sehe also strengere Maßstäbe vor als das Unionsrecht. Dabei setzen sich die Beschwerdeführenden aber nicht mit der Frage auseinander, ob und inwieweit die deutschen Vorschriften zur Speicherung von IP-Adressen bereits wegen des Vorrangs des Unionsrechts unanwendbar sind und worin dann ein Rechtsschutzbedürfnis für deren zusätzliche Prüfung am Maßstab der Grundrechte begründet sein sollte.
Von einer Begründung im Übrigen wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.